Montag, 10. Januar 2011

Regionalbahnkontrolleurumgehungsstrategie

-Was machst du denn da?

Ich schreibe.

-Ach, was schreibst du denn so?

Gedichte, Gedanken, Geschwafel – ein mehr oder weniger lyrisches Geplänkel, manchmal auch chaotisches Gedränge von Wörtern, Phrasen, Reimen.
Ich bin aber mehr so der klassische Typ, weißt du?! Rainer Maria Rilke und Theodor Storm gegen Charlotte Roche und Benjamin von Stuckrad-Barre.

-Und was ist mit Goethe?

Der war ein Streber! Ich mag's eher realistischer, verstehst du?!

Es ist der 1.Oktober und die Menschen fahren, gehen oder humpeln über den Augustusplatz. Von meiner Bank aus kann ich die Wahrzeichen der Stadt sehen – das neue Gewandhaus, erbaut nach einem skandinavischen Architekten im sozialistischen Stil, die Oper erbaut nach einem preußischen Architekten im preußischen Stil und hinter mir das neue Paulineum, von irgendwem erbaut – ganz ohne Stil. Das muss der vielgepriesene Goldene Oktober sein, von dem ich sonst immer nur flüchtig gehört hatte.

„Jaja nun ist der Sommer vorbei.“ - räuspern, stöhnen, leiden.
„Na ja, ist wohl so.“ husten, seufzen, schweigen.

Und eigentlich müsste ich an dieser Stelle ganz im Stile von Thomas Mann beschreiben, wer sich da unterhält, mit allen möglichen Metaphern, die die Falten und die langweiligen Klamotten von Menschen beschreiben, die solche Gespräche führen. Stattdessen wage ich mich an eine extrem präzise, aber immer genau zutreffende statistische Verallgemeinerung:

98% der Menschen in dieser Stadt führen regelmäßig solche Gespräche, sind angepasst und verbittert, 1% sind Anarchisten und der Rest sind zwar irregeführte, aber dafür höchstmotivierte Erstsemesterstudenten.
Ich liebe lange Wörter, ich bilde sie manchmal nur, um mir vorzustellen, wie sie geschrieben aussehen: Ganztagskindergarten, Rumpelkammereingangstür, Teppichreinigerfabrikationsfachangestellter. Dabei frage ich mich dann immer, wo und wann Platz für diese Wörter ist – ich kann ja schlecht in einem Gespräch, das mich langweilt, anfangen total unangebracht lange und nicht in den Kontext passende Wörter dazwischenzuhauen.

Wir stellen uns einmal vor:

Hey was, machst du denn hier?

-Das ist eine Mensa, Rolltreppenaufstiegsblech, ich esse hier!

Oh... OK und warst du beim Seminar?

-Nein ich war nicht beim Koranübersetzungsfehleranalyseseminar!

Es ging doch aber um das Verlagswesen im 18. Jahrhundert?!

-Regionalbahnkontrolleurumgehungsstrategie noch ein mal! Lass mich in Ruhe!

Ist ja gut, bin schon Weg – Vogel!

Problem gelöst – langweiliger Gesprächspartner abgeschüttelt, Mission accomplished!
In Wirklichkeit, würde ich mich so etwas aber niemals trauen.